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Graffitis und Tags in öffentlichen Toiletten: Spiegel einer anonymen Kultur




„Die Wände öffentlicher Toiletten sind die letzte Bühne des Proletariats: Hier schreibt der anonyme Mensch seine Revolte in die Poren des Alltags, roh und ohne Zensur. Jede Schmiererei ist ein kurzer Aufstand gegen die sterile Ordnung, ein Schrei nach Bedeutung in einem Raum, der keine Bedeutung kennt.“


🚹 Heiner Müller


Symbol für Mann

Unicode: U+1F6B9, UTF-8: F0 9F 9A B9


Die Kunst des Unscheinbaren: Ein Gespräch über Toilettenkunst, Graffitis und Tags


Aram Radomski im Interview mit Andrea Teichmann

Die Sprache der Wände:

Eine 22-jährige Fotografin aus Leipzig über das "Unsichtbare in der öffentlichen Kunst"







RUMBALOTTE
RUMBALOTTE

Ein Vorwort zur Funktionalität und ihrer transgressiven Störung

von Aram Radomski © 2025


Im scheinbar banalsten Raum der modernen Zivilisation, der öffentlichen Toilette, vollzieht sich ein philosophisch höchst aufschlussreicher Vorgang. Hier, wo die Architektur zur äußersten Schlichtheit und Funktionalität gezwungen wird, erhebt sich das Graffiti als subversive Tat. Es tritt auf wie ein Flüstern des Subjekts, das der sterilisierten, entmenschlichten Ordnung des Raums einen unverhandelbaren Ausdruck entgegensetzt. Die Wand wird zum Medium eines anonymen Existenzialismus, der das Funktionale durch einen Akt der symbolischen Transgression entweiht.





Die Toilette als Mikro-Chronotop der Moderne


Dieser Raum kann als ein "existentialer Übergangsraum" verstanden werden, ein Ort, an dem der Mensch auf die elementaren Bedingungen seines Daseins zurückgeworfen wird. Die Toilette ist ein Raum der Entleerung und der Neutralität, in dem jede Identität vorübergehend aufgehoben scheint. Genau hierin liegt die Brisanz der dort hinterlassenen Zeichen: Graffitis und Tags durchbrechen den chronotopischen Moment des Reinen und Notwendigen mit einer Spur des Bleibenden, einer Intervention des Ichs in den Raum des Kollektivs.





Das Graffiti als ornamentales Ereignis


„Der Mensch ist das Tier, das zeichnet.“ Indem das Graffiti die sterile Wand markiert, wird der Mensch seiner eigenen Ornamentalisierungsfähigkeit bewusst. Das Tag, der kurze Spruch, die vulgäre Zeichnung – all das verweist auf die unvermeidliche Kreativität des Subjekts, selbst unter widrigsten Bedingungen. Im Graffiti findet die anthropologische Grundbewegung des Menschen ihren Niederschlag: die Tendenz, die Welt mit Bedeutung zu überziehen.






Die Dialektik von Anonymität und Selbstausdruck


Doch Graffitis in Toiletten werfen ein Paradoxon auf: Sie sind anonym und zugleich tief individuell. Das anonyme Subjekt, das hier schreibt, entzieht sich den sozialen und moralischen Kategorien des öffentlichen Lebens. Es spricht durch die Wand, ohne sich zu zeigen. Doch in dieser Anonymität liegt auch ein Ausdrucksdrang, ein Begehren, gehört – oder besser gesagt – gelesen zu werden. Die Dialektik zwischen Selbstausdruck und Entpersönlichung macht die Ästhetik dieser Kunstform aus.





Wandgestaltung und Architektur: Die unbeachtete Bühne


Die Architektur öffentlicher Toiletten verfolgt in der Regel ein Ziel: maximale Funktionalität bei minimalem Aufwand. Doch genau diese pragmatische, fast emotionslose Gestaltung macht sie zur perfekten Leinwand für Graffitis. Die Wände, karg und monochrom, stellen einen Hintergrund dar, der jede Markierung, jedes Zeichen und jeden Spruch ins Zentrum rückt. In gewisser Weise übernehmen Graffitis die Rolle, die ornamentale Verzierungen in historischen Architekturen spielten. Wo einst Stuck und Reliefs Ausdruck von Kultur und Kunstfertigkeit waren, entsteht heute durch spontane Kreativität eine unorthodoxe Form der Wandgestaltung, die dem Raum eine unerwartete Tiefe verleiht.

Für Architekt:innen könnte dies eine Einladung sein, den Raum der öffentlichen Toilette bewusster zu gestalten – nicht nur als Ort der Funktionalität, sondern als möglichen Begegnungsraum für die Kunst des Alltäglichen.







Graffitis als Vorform der sozialen Medien


Die Wand öffentlicher Toiletten ist eine analoge Vorläuferin der sozialen Netzwerke. Wie ein Feed oder eine Timeline sammeln diese Wände spontane Botschaften, Kommentare und Interaktionen, die anonym oder pseudonym veröffentlicht werden. Hier entsteht eine rudimentäre Form von Dialog: Eine Person hinterlässt einen Spruch, eine andere antwortet darunter, ergänzt oder widerspricht. Es entwickelt sich eine Art Thread, der zwar nicht digital, aber dennoch sozial funktioniert. Die dynamische Interaktion mit diesen Nachrichten gleicht den Mechanismen moderner sozialer Medien: Die Wand wird zur Plattform, die Gedanken, Proteste oder einfach Momente des Lebens einfängt.

Während soziale Medien diese Prozesse ins Digitale verlagert haben, bleibt das Graffiti an der Toilettenwand ein unverfälschtes, physisches Medium der Kommunikation. Es zeigt, dass das Bedürfnis, sich mitzuteilen, universal ist – unabhängig von Technologie. Die Wand wird so zur Chronik einer Gemeinschaft, in der die Regeln von Algorithmen keine Macht besitzen.







Graffiti als Flaschenpost des Unbewussten


Das, was an den Wänden öffentlicher Toiletten geschrieben steht, ist oft roh, manchmal obszön, gelegentlich philosophisch – aber immer echt. Es sind Botschaften aus dem unbewussten Reservoir des Kollektivs. Das Graffiti ist eine Art semiotischer Notruf, der aus der Tiefe der Subjektivität emporsteigt, um in einem öffentlichen Raum ausgesendet zu werden. Es ist zugleich Erinnerung und Gegenwart, Protest und Einladung, Einsamkeit und Dialog.








Der Mensch und die Wände seiner Existenz


Das Graffiti in der öffentlichen Toilette ist die einfachste, aber auch radikalste Manifestation der menschlichen Sehnsucht, Spuren zu hinterlassen. Es zeugt davon, dass selbst der entmenschlichteste Raum nicht vor der Ornamentik der Existenz sicher ist. In jedem Tag, in jeder Skizze und in jeder obszönen Phrase liegt ein Beweis für die selbsttranszendierende Natur des Menschen. Die Toilettenwand wird so zur Leinwand unserer Kultur – unscheinbar, aber unendlich bedeutungsvoll.


Die Kunst des Unscheinbaren: Ein Gespräch über Toilettenkunst, Graffitis und Tags


Interview mit Andrea Teichmann

Die Sprache der Wände:

Eine 22-jährige Fotografin aus Leipzig über das "Unsichtbare in der öffentlichen Kunst"

Aram Radomski: Die öffentliche Toilette ist ein Ort des Funktionalen. Aber warum wird gerade hier so oft Kunst gemacht?


Andrea Teichmann: Weil Funktionalität immer eine Bühne für den Bruch bietet. Die sterile Wand fordert das Chaos heraus. Ein Akt des Widerstands gegen die glattgezogene Oberfläche – sowohl materiell als auch ideologisch.


Aram Radomski: Also ein Anti-Ornament in einem anti-ornamentalen Raum?


Andrea Teichmann: Nein. Nicht Anti-Ornament. Eher ein Meta-Ornament. Die Graffitis und Tags machen das Unsichtbare sichtbar: die Spuren derer, die sonst keine Spuren hinterlassen dürfen.





Aram Radomski: Als Kommunikationsdesigner sehe ich in diesen Kritzeleien oft eine wilde Typografie. Jeder Tag, jede Botschaft trägt die Handschrift einer unbewussten Ästhetik. Ist das Zufall oder Absicht?


Andrea Teichmann: Absicht im Zufall. Der spontane Strich ist der radikalste Akt der Gestaltung. Ohne Raster, ohne Maßstab – und doch entsteht eine Form, die etwas erzählt.


Aram Radomski: Ein Narrativ der Anonymität?


Andrea Teichmann: Genau. Es ist eine Schrift der Schatten. Die Namen der Unbekannten, die am Rand der Gesellschaft stehen, manifestieren sich in einem einzigen Moment des Tuns. Ihre Typografie ist roh, aber ehrlich – und in ihrer Unvollkommenheit vollkommen.



Unbekannter Autor - USB Stick Fund 2012
Unbekannter Autor - USB Stick Fund 2012

Aram Radomski: Die Wand spricht. Aber was sagt sie wirklich? Ist das eine Diskussion oder ein Monolog?


Andrea Teichmann: Beides. Sie beginnt als Monolog – eine einzige Botschaft, ein einzelner Ausdruck. Doch die nächste Person greift ein, ergänzt, widerspricht. Es wird ein Dialog. Ein Thread aus Kreide, Filzstift und Kugelschreiber.


Aram Radomski: Ein analoges Forum. Die Timeline der Straße.


Andrea Teichmann: Ja, nur ohne Algorithmen. Jede Botschaft hat das gleiche Gewicht. Es gibt keine Likes, nur die Spuren der Interaktion: eine durchgestrichene Zeile, ein hinzugefügter Pfeil. Das ist die wahre Demokratie der Wand.



U2
U2

Aram Radomski: Was bedeutet das für uns als Gestalter:innen? Ist jede Wand eine potenzielle Leinwand?


Andrea Teichmann: Die Architektur hat immer zwei Gesichter: das geplante und das erlebte. Das Graffiti zeigt, wie Räume wirklich genutzt werden. Es macht das Erlebte sichtbar, das die Architekt:innen oft ausblenden. Eine Toilette ist nicht nur ein funktionaler Raum, sie ist auch ein sozialer Ort. Eine Leinwand der Gefühle.


Aram Radomski: Sollten wir also Räume schaffen, die diese Spuren einladen, statt sie zu verhindern?


Andrea Teichmann: Vielleicht. Aber was passiert, wenn wir die Spontaneität institutionalisieren? Wenn wir die anarchische Kunst in den Rahmen des Designs pressen, verlieren wir ihren Kern.



Aram Radomski: Die ewige Frage: Ist das Kunst oder Vandalismus?


Andrea Teichmann: Das hängt vom Betrachter ab. Für den einen ist es Kunst, für den anderen ein Störfaktor. Doch diese Frage ist selbst ein Teil der Kunst. Jede Interpretation verlängert die Lebenszeit der Botschaft. Jede Diskussion über ihren Wert ist eine Hommage an ihre Existenz.



Aram Radomski: Dann ist die Toilette der erste Ausstellungsraum, der keinen Kurator braucht.


Andrea Teichmann: Exakt. Und der einzige, in dem jede:r eine Stimme hat – egal, wie leise sie ist.



Aram Radomski: Wenn wir Graffitis als Vorform sozialer Medien betrachten, was sagt das über unsere heutige digitale Kultur aus?


Andrea Teichmann: Es zeigt, dass die menschliche Sehnsucht nach Kommunikation universell ist. Das, was heute auf Instagram gepostet wird, ist im Kern dasselbe wie der Spruch auf der Toilettenwand. Beide entstehen aus dem Bedürfnis, gesehen zu werden. Doch die digitale Kultur hat das Graffiti domestiziert.


Aram Radomski: Inwiefern?


Andrea Teichmann: Das Graffiti auf der Wand ist physisch, es hat ein Gewicht und eine Dauer. Ein digitaler Post kann jederzeit gelöscht werden, er ist flüchtig, obwohl er überall sichtbar ist. Das Graffiti bleibt – zumindest bis es übermalt wird. Es ist widerständig, während das Digitale oft konformistisch ist.



Berlin Prenzlauer Berg
Berlin Prenzlauer Berg




Aram Radomski: Und was passiert, wenn die digitale Welt diese physischen Räume beeinflusst?


Andrea Teichmann: Interessant wird es, wenn diese Welten sich überlagern. QR-Codes in Graffitis oder digitale Tags, die auf Instagram verlinken, sind Beispiele dafür, wie das Analoge und das Digitale miteinander verschmelzen. Doch diese Verbindung ist ambivalent – sie bringt die Subversivität des Graffitis in Gefahr, indem sie es in einen vermarktbaren Kontext stellt.



Aram Radomski: Haben wir eine Verantwortung, solche spontanen Kunstformen zu schützen oder zu fördern?


Andrea Teichmann: Unsere Verantwortung liegt vielleicht weniger im Schutz als in der Schaffung von Möglichkeiten. Wir können Räume gestalten, die Dialoge einladen, ohne sie zu kontrollieren. Aber das ist ein schmaler Grat – sobald wir etwas „fördern“, besteht die Gefahr, dass wir es ersticken.


Aram Radomski: Wie könnten solche Räume aussehen?


Andrea Teichmann: Sie könnten aus Materialien bestehen, die Veränderung ermöglichen: Tafelfarben, temporäre Wände oder projizierbare Oberflächen. Vielleicht brauchen wir auch mehr Orte, die nicht perfektioniert wirken, sondern Ecken und Kanten haben – Räume, die zum Experiment einladen.



Berlin Mitte - Eilige Mutter © Aram Radomski
Berlin Mitte - Eilige Mutter © Aram Radomski

Aram Radomski: Denkst du, Toilettenkunst wird irgendwann verschwinden?


Andrea Teichmann: Nein, das glaube ich nicht. Sie wird sich vielleicht wandeln, vielleicht technologischer werden – aber die grundlegende Dynamik bleibt. Wo Menschen Räume finden, in denen sie sich ausdrücken können, wird Kunst entstehen. Die Toilettenwand wird immer eine der intimsten Leinwände bleiben.


Aram Radomski: Weil sie der ehrlichste Spiegel ist?


Andrea Teichmann: Genau. Sie zeigt uns, was wir nicht sehen wollen – und genau darin liegt ihr Wert.


Andrea Teichmann 2025
Andrea Teichmann 2025


Aram Radomski: Wenn ich über Toilettengraffiti nachdenke, sehe ich darin oft etwas Wildes, Unkontrolliertes – wie Blues oder Freejazz. Würdest du sagen, dass diese Kritzeleien eine ähnliche Energie tragen?


Andrea Teichmann: Absolut. Wie der Blues oder der Freejazz sind Graffitis an den Wänden improvisierte Ausdrucksformen. Sie folgen keiner festen Struktur, sondern entstehen aus dem Moment heraus. Sie tragen die Energie des Spontanen und das Rohmaterial des Lebens in sich – mit all seinen Brüchen, Schrägen und Dissonanzen.


Aram Radomski: Dann wäre die Toilettenwand eine Art Bühne?


Andrea Teichmann: Eine Bühne, ja. Aber auch ein Archiv. Denk an Hieroglyphen – frühe Symbole, die nicht nur Sprache, sondern ganze Kulturen und ihre Geschichten konservierten. Toilettengraffiti sind eine moderne, informelle Version davon. Sie dokumentieren, was die Menschen bewegt, was sie denken, lieben, hassen oder einfach loswerden wollen.


Andrea Teichmann | Fashion
Andrea Teichmann | Fashion

Aram Radomski: Aber ohne Anspruch auf Ewigkeit?


Andrea Teichmann: Genau. Es ist Kunst, die weiß, dass sie vergänglich ist. Wie ein improvisiertes Jazz-Solo, das sich in den Raum legt und dann verschwindet. Das macht sie so besonders: Sie ist im Moment und für den Moment.


Aram Radomski: Eine Kunstform, die sich nicht nur durch ihre Botschaft definiert, sondern durch die Art, wie sie entsteht.


Andrea Teichmann: Und durch die Interaktion. Jemand schreibt etwas, jemand anderes antwortet, verändert, ergänzt. Wie bei einem Jazz-Ensemble entsteht eine Art Dialog, der von der Dynamik des Augenblicks lebt.





Aram Radomski: Wenn Graffitis wie Blues oder Freejazz sind, könnten wir sie auch als eine Art Hieroglyphen unserer Zeit sehen. Aber was genau kommunizieren diese Zeichen? Sind sie nur persönliche Botschaften oder haben sie eine größere Bedeutung?


Andrea Teichmann: Sie sind beides. Wie Hieroglyphen in der Antike tragen Graffitis multiple Ebenen von Bedeutung. Sie sind individuelle Ausdrucksformen – jemand hinterlässt seinen Namen, eine Meinung, einen Frust. Gleichzeitig erzählen sie aber auch Geschichten einer Gesellschaft. Sie konservieren Stimmungen, Konflikte, Trends und Sehnsüchte.



Aram Radomski: Also eine Art visuelle Kommunikation, die sowohl individuell als auch kollektiv ist?


Andrea Teichmann: Genau. Sie sprechen zu den Eingeweihten, denjenigen, die den Code der Botschaften verstehen – und das macht sie fast zu einem sozialen Ritual. Doch sie sprechen auch über die Eingeweihten hinaus, als universelle Zeichen der Existenz. In diesem Sinne sind sie tatsächlich wie Hieroglyphen: Sie hinterlassen Spuren einer Kultur, die gelesen werden können, wenn man den Kontext versteht.


Aram Radomski: In Hieroglyphen liegt ja auch eine besondere Verbindung von Bild und Sprache. Kann man Graffitis ähnlich sehen – als hybride Form von visueller und sprachlicher Kommunikation?


Andrea Teichmann: Absolut. Ein Graffiti ist oft mehr als ein Schriftzug. Die Wahl des Materials, der Linienführung, der Position an der Wand – all das erzählt etwas. Es ist eine architektonische Geste, die die Sprache erweitert. Ein Tag mag ein Name sein, aber in seiner Platzierung und seinem Stil wird er zu einem Symbol für etwas Größeres. Er wird zur Markierung von Raum, zur Inszenierung von Identität.


Aram Radomski: Dann ist eine Toilettenwand so etwas wie ein Gesprächsprotokoll?


Andrea Teichmann: Ja, aber ein chaotisches, unzensiertes Protokoll. Es gibt keine Moderation, keine Struktur. Und gerade das macht es so ehrlich. Jede Botschaft interagiert mit den anderen, sei es durch Ergänzung, Widerspruch oder simple Übermalung. Es ist ein Netzwerk der Kommunikation, das sich ständig selbst erneuert.



Aram Radomski: Ein Netzwerk ohne zentrale Instanz. Es klingt fast wie eine Vorahnung dessen, was heute in sozialen Medien geschieht.


Andrea Teichmann: Genau. Aber der entscheidende Unterschied ist, dass Graffitis physisch sind. Sie fordern einen Raum ein, sie verändern die Umgebung. Soziale Medien sind immateriell, sie existieren in einem virtuellen Raum. Die Graffitis an der Toilettenwand sind real, man kann sie berühren. Sie erinnern uns daran, dass Kommunikation auch ein physischer Akt ist.


Aram Radomski: Und damit bleiben sie immer auch ein architektonisches Statement?


Andrea Teichmann: Ja, das tun sie. Jede Wand, auf der etwas hinterlassen wird, wird neu definiert. Aus einer reinen Barriere wird eine Plattform, aus einem neutralen Hintergrund ein Träger von Bedeutung. Die Architektur wird Teil der Kommunikation – und dadurch lebendig.



Aram Radomski: Wenn Graffitis wie Blues oder Freejazz sind, könnten wir sie auch als eine Art Hieroglyphen unserer Zeit sehen. Aber was genau kommunizieren diese Zeichen? Sind sie nur persönliche Botschaften oder haben sie eine größere Bedeutung?


Andrea Teichmann: Sie sind beides. Wie Hieroglyphen in der Antike tragen Graffitis multiple Ebenen von Bedeutung. Sie sind individuelle Ausdrucksformen – jemand hinterlässt seinen Namen, eine Meinung, einen Frust. Gleichzeitig erzählen sie aber auch Geschichten einer Gesellschaft. Sie konservieren Stimmungen, Konflikte, Trends und Sehnsüchte.


Aram Radomski: Also eine Art visuelle Kommunikation, die sowohl individuell als auch kollektiv ist?


Andrea Teichmann: Genau. Sie sprechen zu den Eingeweihten, denjenigen, die den Code der Botschaften verstehen – und das macht sie fast zu einem sozialen Ritual. Doch sie sprechen auch über die Eingeweihten hinaus, als universelle Zeichen der Existenz. In diesem Sinne sind sie tatsächlich wie Hieroglyphen: Sie hinterlassen Spuren einer Kultur, die gelesen werden können, wenn man den Kontext versteht.



Aram Radomski: In Hieroglyphen liegt ja auch eine besondere Verbindung von Bild und Sprache. Kann man Graffitis ähnlich sehen – als hybride Form von visueller und sprachlicher Kommunikation?


Andrea Teichmann: Absolut. Ein Graffiti ist oft mehr als ein Schriftzug. Die Wahl des Materials, der Linienführung, der Position an der Wand – all das erzählt etwas. Es ist eine architektonische Geste, die die Sprache erweitert. Ein Tag mag ein Name sein, aber in seiner Platzierung und seinem Stil wird er zu einem Symbol für etwas Größeres. Er wird zur Markierung von Raum, zur Inszenierung von Identität.


Aram Radomski: Dann ist eine Toilettenwand so etwas wie ein Gesprächsprotokoll?


Andrea Teichmann: Ja, aber ein chaotisches, unzensiertes Protokoll. Es gibt keine Moderation, keine Struktur. Und gerade das macht es so ehrlich. Jede Botschaft interagiert mit den anderen, sei es durch Ergänzung, Widerspruch oder simple Übermalung. Es ist ein Netzwerk der Kommunikation, das sich ständig selbst erneuert.



Aram Radomski: Ein Netzwerk ohne zentrale Instanz. Es klingt fast wie eine Vorahnung dessen, was heute in sozialen Medien geschieht.


Andrea Teichmann: Genau. Aber der entscheidende Unterschied ist, dass Graffitis physisch sind. Sie fordern einen Raum ein, sie verändern die Umgebung. Soziale Medien sind immateriell, sie existieren in einem virtuellen Raum. Die Graffitis an der Toilettenwand sind real, man kann sie berühren. Sie erinnern uns daran, dass Kommunikation auch ein physischer Akt ist.


Aram Radomski: Und damit bleiben sie immer auch ein architektonisches Statement?


Andrea Teichmann: Ja, das tun sie. Jede Wand, auf der etwas hinterlassen wird, wird neu definiert. Aus einer reinen Barriere wird eine Plattform, aus einem neutralen Hintergrund ein Träger von Bedeutung. Die Architektur wird Teil der Kommunikation – und dadurch lebendig.


Aram Radomski: Andrea, wenn wir all das zusammenfassen – die Spontaneität, die Kommunikation, die räumliche Dimension – was bleibt am Ende als Essenz dieser Toilettengraffiti?


Andrea Teichmann: Dass das Unspektakuläre oft das Bedeutendste ist. Diese kleinen, scheinbar banalen Kritzeleien sind mehr als bloße Spuren. Sie zeigen uns, dass Kunst und Kommunikation überall entstehen können, selbst in den unscheinbarsten Ecken. Sie erinnern uns daran, dass Menschen immer nach Ausdruck suchen – unabhängig davon, wie funktional oder steril der Raum ist.



Aram Radomski: Und vielleicht ist das der wichtigste Punkt: dass Kunst nicht immer geplant oder monumental sein muss, um eine Wirkung zu haben.


Andrea Teichmann: Genau. Sie entsteht im Moment und für den Moment. Und sie bleibt – selbst wenn sie irgendwann übermalt wird – als Gedanke, als Erinnerung, als Idee. Das ist die wahre Stärke dieser Kunst: Sie ist ehrlich, direkt und unvergänglich in ihrer Vergänglichkeit.


Aram Radomski: Ein Dialog mit der Wand, der zu einem Dialog mit der Gesellschaft wird.


Andrea Teichmann: Oder zu einem Dialog mit uns selbst. Die Toilettenwand hält uns einen Spiegel vor – und zeigt uns, was wir vielleicht vergessen oder übersehen hätten. Das ist ihr größtes Geschenk.


Das Gespräch führte Aram Radomski mit der Leipziger Fotografin Andrea Teichmann im Januar 2025 in Berlin Mitte


Berliner Situation
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