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DAS VERBORGENE HINTER DEM SICHTBAREN

Aktualisiert: vor 1 Tag

Jürgen K. Hultenreich

ÜBER ARAM RADOMSKIS PORTRÄTFOTOGRAFIEN


Aram Radomski ( Vordergrund )




 



Die Frühform der Fotografie ist der Spiegel. Er zeigt ein sich bewegendes, seitenverkehrtes Bild von uns. Obwohl er also lügt, sind wir erkennbar. Das Besondere an der Fotografie ist, dass man sich darauf oft kaum wieder erkennt. Was daran liegt, dass wir die Einzigen sind, die sich ohne Spiegel nie zu sehen vermögen. Jedes andere Gesicht kennen wir besser, unseres kennen wir nicht. Deshalb das Staunen über Fotos, die das Bild von uns präzisieren. Wir wissen normalerweise weder, wie unsereins von hinten aussieht, noch haben wir beispielsweise eine Vorstellung davon, wie Extremsituationen das Gesicht entstellen. 




 


Ist Fotografieren eine Kunst? Nein, denn ansonsten wären alle Fotografierenden – ob mit Apparat, Handy oder sonst was – Künstler. Der Künstler unterscheidet sich im besten Falle vom Laien dadurch, dass er sein Objekt mit einer Idee verbindet, also nicht wild drauflos schießt. Dass auch einem wildgewordenen Fotojäger gelegentlich ein guter Schappschuß gelingt, ist weniger seinem Können zu danken, als dem Umstand, dass ihm zufällig und ohne sein Zutun ein ansehnliches Objekt vor die Flinte lief. Wir alle kennen solche Fotos. Was man sieht, sind angebliche Naturschönheiten, Sonnenaufgänge, Oma beim Abknabbern eines Knochens, Opa still in der Kiste, eine noch lächelnde Braut, ein schöner Verkehrsunfall, belanglose Selbstporträts und immer wieder das ertrinkende Venedig oder von Bolognese überflutete Teller und Nudelgebirge in Italien. Dabei wären doch echte Säufervisagen viel interessanter.



Alle diese Fotos, egal von wem, gleichen sich und sind des Aufhebens nicht wert. Gottseidank sind die Zeiten vorbei, wo einem in trauter Runde wohlgefüllte Alben zum Nachtisch präsentiert wurden und man das nur überstand, weil Schnaps gereicht wurde. Heutiges Pendant dazu ist das Scrollen der Bilder auf dem Handy. Das geht schneller, ist aber noch fürchterlicher. Kein Schwein interessiert sich in Wahrheit dafür. Es bleibt lediglich eine Art von Kommunikation für die, denen die Worte für ihren selbst auferlegten Schwachsinn fehlen.


In der Literatur würde man sagen: Gemästete Nebensätze eines Vielschreibers. Balzac wäre ein passendes Beispiel. Nur etwa alle 30 Seiten mal eine halbgelungene Formulierung. Statt Männern gibt es bei ihm nur Geizhälse, Intriganten, Journalisten oder giftmischende Portiers. Seine Frauen sind Mauerblümchen, verheiratete Nutten, unverheiratete Nur-an-sich-Denkende. Balzacs Federkiel konnte die Tinte nicht halten. Genau so wie unsere unseligen Handy-Fotografierer die Pfoten nicht vom Auslöser bekommen. Für wen machen sie das eigentlich? Für den Hunderttausendsten ihresgleichen? Nein, wir wollen das alles nicht lesen oder sehen. Für gutes Schreiben oder Fotografieren müssen andere Maßstäbe angelegt werden. Wir sollten uns auch nicht einreden lassen, dass während einer Kosacken-Pioruette Kinder gezeugt werden könnten.







„Fotografie ist immer gestern“, sagt Aram Radomski, und „individuell ist das, was bei jedem anders ist.“ Hinter jedem Foto von ihm steckt eine Idee, die aber als erstes vorhanden gewesen sein muß. Indem er das Heute-schon-Gestern zeigt, taucht der Gedanke an Zukünftiges auf: Was wird aus dieser Gegend, dieser Baulücke, diesem Gebäude, diesem Volk werden? Was aus diesem Gesicht, dessen Falten mehr Zweifel enthalten, als gültige Antworten? 


AR.s Porträts sind keine Gelegenheitsarbeiten, sondern herausragende Schöpfungen im Gesamtkontext seines Werkes. Es gibt kaum einen Fotokünstler, der sein Objekt aus der gegenwärtigen Vergangenheit (die nach jedem Augenblick erfolgt) dem Betrachter in späteren Zeiten nahe zu bringen versucht und seine Kamera darauf ausrichtet.


Wir dürfen davon ausgehen, dass AR nicht nur hinter seiner Kamera wie ein konzentriertes Auge agiert, sondern auch im Täglichen mehr und konzentrierter zu sehen sich angewöhnt hat als andere, denn es gibt viel mehr Motive, als der Laie glaubt. Doch das allein scheint es nicht zu sein, was AR zum Arbeiten drängt. Solange sich keine Idee offenbart, liegen die Motive brach. AR sammelt sie mit den Augen, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können.


 





Durch eine Idee wird das Motiv auf eine höhere Ebene verlagert, aus der Normalität befreit. Es ist wie bei der Betrachtung des Mondes. Als Beispiel möge Matthias Claudius mit seinem berühmten Abendlied dienen, das mit „Der Mond ist aufgegangen ...„ beginnt. Jeder von uns dürfte schon mal einen Mondaufgang gesehen haben. Doch wer hätte dazu schon je einen Gedanken, eine Idee gehabt wie die von Claudius: „... Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön! / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Das ganze sichtbare Leben besteht jederzeit nur aus sichtbaren halben Sachen. 


Bei AR.s neuestem Projekt, einer Porträtabfolge die sich als Fortsetzung seiner früheren Serie German People versteht, sehen wir die Abgebildeten von vorn. Neben dem dokumentarischen Wert, den die Fotos durchaus besitzen, ist ihr darüber Hinausweisen das Wichtigere. Dadurch sind sie im Bereich der Kunst angekommen. 







AR.s Bilder schließen nahtlos an die schnörkellose Bildsprache der Daguerreotypien des deutschen Fotopioniers Hermann Bios an, der von 1804 bis zu seinem Tode 1850 in Berlin lebte. Er schuf 1848 eine der berühmtesten Abbildungen des 19. Jahrhunderts, das wie eine Ikone wirkende Porträt des 73-jährigen Philosophen und Hölderlin-Freundes Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. So sieht heutzutage keiner mehr aus. Wir sehen in Schillings Gesicht die ganze Tiefe der Welt, das gesamte 19. Jahrhundert mit all seinen Hoffnungen und zerstörten Plänen. Es ist das Gesicht des berühmtesten deutschen Naturphilosophen, der am Ende seines Lebens zwar persönlich nicht resignierte, aber den Aufregungen des Tages kaum mehr etwas abzugewinnen vermochte und seiner selbst durchhalte-gewiß in die Kamera blickt und, wenn man so will, auch in Zukünftiges und dadurch uns Nachgeborenen Zuversicht vermittelt oder eben auch nur den schlichten Satz aller wahren Optimisten: „Gib’s auf!“ 




Die Idee von der geheimen Mitteilung an die Zukünftigen hat AR aufgegriffen und in diesem Sinne seine Protagonisten vor einer Kamera positioniert – unabhängig von politischer Ausrichtung, Berufsstand, Erfolg oder Nichterfolg im Leben. Es gab nur eine einzige Vorgabe: „Nicht lächeln!“ Trotzdem taten es einige, als würden Bewerbungsfotos erstellt. Man sieht ihnen das Künstliche und somit den Versuch an, ein Idealwesen, das jeder von uns in sich zu haben glaubt, herauszustellen. Zukünftige werden es zu deuten wissen, denn auch das sind Nachrichten.





Die Methode des leichten Überbetonens wurde von Vertretern der Neuen Sachlichkeit entwickelt (in der Malerei z. B. Otto Dix und Georg Grosz): Eine neue Form realistischer Darstellung, die mit scharfem Blick die Realität bis in ihre verborgenen Tiefen aufzuschlüsseln versucht. Das Wort Max Liebermanns, Zeichnen sei Weglassen, gilt auch für die Fotografie. In der Realität zu leben ist leicht. Man braucht sich nur zu informieren. Der Wirklichkeit jedoch muß man sich aussetzen. Etwas muß antworten. Alle Erfahrungen sind ein Zusammenspiel. Wir Betrachter sehen in diesen Bildern die Realität, die auf eine persönliche Wirklichkeit traf und dadurch nicht nur Objektives schuf.





Aus vielen dieser Gesichter starrt das Unheimliche der Welt in den gesicherten Raum. Manche wirken, als würden sie von der Last eines aussichtslosen Wissens erdrückt, als seien sie vom Unbegreiflichen ergriffen. Das aber wären der Anfang und das Ende allen Begreifens. Hier ist jeder sein eigener Zeitgenosse: Seltsam gegenständlich, präsent, gleichzeitig ganz weggenommen, einer fremden, sehr objektiven Ordnung angehörig. Es sind Standbilder ins Herz der Not, des Glücks, der Zufriedenheit. Fragezeichen werden erkennbar, wenige Ausrufungszeichen. Wir Betrachter begeben uns in einen monologischen small talk mit den selbstgenügsamen Gemütern, Intellektuellen, Musikern, grauen Eminenzen, Werwölfen oder unserem Betreuungspersonal und den verhinderten Sirenen. 



Wir sehen keine Heiligen. Hier gibt es wenig Heldentum oder sieghafte Gewissheit wie in den sogenannten Arbeiter-Porträts der DDR. Lediglich das kleine Lämpchen der Zuversicht. Keine und keiner will große Türen öffnen. Es werden aber auch keine entkernten Personen gezeigt, niemand wird vorgeführt oder denunziert. Eher ist es so, dass AR es vermochte, jedem Gesicht seine eigene Würde zu geben, mitunter sogar Schönheit und Noblesse des Aussehen und Wesens.







Was ebenso entfällt ist die Tatsache: Jedes Gesicht ist von den anderen so unterschieden, dass man gar nicht glauben möchte, alle seien vom gleichen Stern. Manche könnten wir uns gut als Außerirdische vorstellen. Es sind aufbauende Gesichter darunter, anderen sieht man an, dass sie Trümmer lieben, endlich solche, die ihr Leben lang von Obdach zu Obdach streben oder die der Wind am meisten rüttelte, um ihre Standfestigkeit zu prüfen. Doch der Wind weiß nichts von den Wurzeln am ewigen Grund. 


Jürgen K. Hultenreich © 2024





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